Wer bei Grand Cru aus den 70ern hui sagt, kann bei Naturwein nicht pfui sagen.
Ein Gesinnungsaufsatz
Für Adalbert, den etwas eigenartigen Protagonisten in Klaus Egles Handbuch für Weinsnobs, gibt es nur zwei Weine, die überhaupt irgendeine Existenzberechtigung haben: Barolo und Riesling. Wäre ich eine obskure, überzeichnete und vermessene Figur in irgendeinem Buch, würde ich ebenfalls nur zwei Weine trinken: Naturwein und Burgunder aus den 70ern. Paradoxerweise und obwohl beiden Weintypen völlig unterschiedliche weinbauliche Praktiken zugrunde liegen, haben diese Weine große Gemeinsamkeiten. Ich gehe noch weiter und sage: Nichts kommt sehr altem Wein näher als sogenannter Naturwein.
Denn sowohl bei den meisten sogenannten Naturweinen als auch bei sehr alten Weinen – damit meine ich Ü40 – geht es im Kern um dasselbe: das feine Wechselspiel zwischen sauberen und dreckigen Aromen. Alter Pinot Noir duftet nicht selten nach Leder, Speck, Kümmel, Maggi oder Sauerkraut und weist damit ein Aromenspektrum auf, das dem von schwefelarmen, ungeschönten und unfiltrierten Rotweinen gar nicht so unähnlich ist. Ganz zu schweigen von den Brettorgien alter Grand Cru aus Bordeaux.
Nichts kommt sehr altem Wein näher als sogenannter Naturwein
Auch bei altem Chardonnay aus dem Burgund kann man Analogien zu weißen Naturweinen finden. Durch den niedrigen Schwefelgehalt, was so ziemlich der einzige Konsens in der ansonsten sehr diffusen Naturweinszene ist, durchläuft der Wein kleine Oxidationsprozesse, die Primärfrucht1 rauben und Nussigkeit entstehen lassen. Chenin Blanc von Nicolas Joly oder Sylvaner von Stefan Vetter weist deswegen häufig prononcierte Aromen von ungerösteten Haselnüssen und ganz frischen Champignons auf. Ein ähnliche nussige Aromatik2 hatte auch ein beeindruckender weißer Village von der Côte de Beaune aus dem Jahr 1978, den ich neulich im Glas hatte.
Selbst die wahrgenommene Güte bemisst sich bei beiden Weintypen gleich. Gerät das feine Wechselspiel aus den Fugen, sprich, schmeckt ein alter Burgunder nur noch nach Kraut oder ein ungeschwefelter Naturwein nur nach Ziegenstall, dann ist der Wein (wahrgenommener) Mist. Gesellen sich zu den dreckigen Aromen aber klare, saubere und präzise Gegenpole in Form subtiler Fruchtnoten, einer präzisen Säurestruktur oder einem feines Tanningerüsts, entstehen grazile und äußerst vielschichtige Weine. Egal ob es sich um einen Gevrey-Chambertin aus den 70ern oder stinkigen Pét-Nat handelt.
Passend zum Thema…

Die chemischen Hintergründe sind kompliziert und das Feld der Weinreifung ist wissenschaftlich etwa so weit durchdrungen wie das der maritimen Tiefseefauna, und doch kann alles auf eine einfache Formel herunterbrechen: Irgendwann wird jeder Wein Naturwein.
Winzer kann man sich dabei vorstellen wie Helikoptereltern, die prophylaktisch, antizipativ und reparativ auf ihre Schützlinge einwirken: Setzen SO2 ein, um Oxidation vorzubeugen, geben Nährsalze bei, damit die Hefe sorglos ihre Arbeit verrichten kann und ziehen mit Aktivkohle allerlei 3 Fehltöne aus dem Wein. Wird der Wein flügge – in unserem Kontext: für 40 Jahre im Keller eingelagert –, entzieht er sich der Einflusssphäre des Winzers und ist spätestens, wenn nach einigen Jahren die Konzentration freier SO2 gegen null läuft, einer echter Fatalist. Der Wein ist seiner Umwelt ausgeliefert, die von nun an den Ton angibt. Die Natur wird der Chef.
Wie harmonisch das feine Wechselspiel zwischen sauber und dreckig bei einem 45 Jahre alten Burgunder ist, hängt nun vor allem von dieser Umwelt, dieser Natur ab. Es mag unromantisch klingen, aber ich bin fest davon überzeugt, dass ein paar Grad Celsius Kellertemperatur in diesem Alter mehr Einfluss auf den Wein haben als der Winzer. Die Natur ist der Chef.
Alter Bordeaux hui, Naturwein pfui? Ein Widerspruch
Immer wieder muss ich schmunzeln, wenn Weintrinker des eher konservativen vinophilen Milieus, nicht müde werden, die Fehlerhaftigkeit von Naturweinen betonen und dann leidenschaftlich gerne große alte Bordeaux trinken. Naturwein kategorisch abzulehnen und dann moschusartige Weine zu glorifizieren, die den Großteil ihres Lebens unter Schwefeldosen naturweinähnlicher Zustände verbracht haben, ist schlicht inkonsequent.4
Natürlich schmecken alte Weine und Naturweine nicht gleich und auf affektiver Ebene ist es vollkommen zulässig, alte Burgunder zu lieben, ohne jeden trendigen Naturweinfreak mithypen zu müssen. Doch aus dem Stereotyp des “fehlerhaften Naturweins” ergibt sich ein Widerspruch, sobald die Folgerichtigkeit der Abstraktion von Fehlerhaftigkeit nicht auf Weine jeder Couleur projiziert wird5. Wer sagt “90 Prozent aller Naturweine sind fehlerhaft”, darf diese These ruhig aufstellen, muss dann aber auch mit einer schmerzhaften Synthese leben: 99 Prozent aller Grand Cru aus den 70ern sind fehlerhaft.
