Niko aus Kreta – Hauswein 1982-2019
Diesen Wein gibt es eigentlich gar nicht. Er hat auch keinen Namen und erst recht kein Etikett. Die Flasche, die auf meinem Tisch landete, brachte mir ein Freund eigenhändig vom Tank gezapft von einer Griechenlandreise mit. Ihr Inhalt kommt aus dem Weinberg eines gewissen Niko, also quasi von Freunden von Freunden. Vielleicht bin ich deswegen auch nicht ganz unvoreingenommen, auch wenn ich nicht viel über die Machart des Weines weiß. Nur soviel: er entstammt einer 1982 gestarteten Solera, aus Trauben autochthoner Reben, die in einem Garten auf Kreta wachsen. Mein Freund, der Kreta gut kennt, erzählt, jede Familie stelle dort solche Hausweine her, der von Nikos Familie sei aber der beste, den er kenne.
Mich fasziniert an diesem Wein, wie wenig er mit fast allen sogenannten Naturweinen gemein hat, die man gelegentlich vorgesetzt bekommt. Und das, obwohl er vollständig durchoxidiert ist, keinerlei Primärfrucht zeigt und dicklich-bräunlich im Glas liegt. Was diesen zeitlosen Wein von modischen Naturweinen unterscheidet, ist metaphorisch gesprochen, seine Weisheit und kauzige Altersmilde: mächtig, schwer und kantig, aber nicht aufgedreht, nicht forciert und nicht gewollt. Praktisch gesprochen zeigt er keinerlei Anflüge von Essigsäure, Ethylacetat oder Schwefelwasserstoff. Ich habe selten einen Wein getrunken, der weniger gemacht wirkt. Das wirft die Frage auf, was die ganzen sogenannten Naturweinwinzer denn machen, wenn Wein, den man einfach liegen lässt, so ganz anders schmeckt.
Im ersten Moment erinnert er mit frischen einem Champignon-Ton er noch ein wenig an Vin Jaune, wird dann aber schnell wärmer und mediterraner, zeigt Wermutkraut, schwarze Oliven, getrocknete Morcheln, Granny-Smith-Schale, Assam Tee, Kapernäpfel, vertrocknete Thymiansträucher. Im Mund wechseln sich Bittertöne, Alkoholsüße und eine sehnige Säure ab, die dem Wein trotz rückhaltlos feuriger Intensität seine Balance bewahrt. Es scheint, als würde er immer Vollgas geben, um nicht ins Wanken zu geraten.
Ich habe vor ein paar Jahren mal über einen Chardonnay der Domaine des Miroirs, geschrieben, dass ich diesen Wein wohl selbst nie wieder trinken werde. Das gilt für Nikos Wein ebenso. Selbst wenn ich nochmal eine Flasche hin die Finger bekäme: würde er noch genauso schmecken? Wäre der Oxidationsgrad derselbe? Hat sich der Wein während der Reise verändert oder hat Niko in der Zwischenzeit sogar neuen Most beigegeben? Wieso also über einen Wein schreiben, der eine bloße Momentaufnahme ist?
Es gibt zwei Sorten von Weinkritiken. Die einen dienen der Empfehlung, die anderen mal als Informationsquelle, oft aber bloßer Unterhaltung. Meine Texte über die Rieslinge von Gröhl oder über Heinz Wagner sind auf jeden Fall als Empfehlung aufzufassen. Wer auf der Suche nach gutem Sekt ist, kann sogar auf einen Link zum Weingut klicken und den Sekt bestellen. Das ist meinem Fall ein Leser-Service, kein Affiliate-Link.
Daneben gibt es Texte – auch auf Champagner & Schorle –, für die es völlig egal ist, ob man die Weine davor oder danach oder zeitgleich oder überhaupt irgendwann mal getrunken hat. Ich würde mich aus dem Fenster lehnen und behaupten, der mit Abstand größte Teil der weltweit verfassten Weinkritiken wird niemals von ihren Lesern im Glas nachvollzogen. Und das ist auch nicht weiter schlimm. Manche Weine trinke ich, damit ihr sie nicht trinken müsst. Naturwein von Penny zum Beispiel. Andere Aromen, die Kritiker beschreiben, finden so metaphorisch einen Weg zu Liebhabern, den sie flüssig nie finden würden. Ich lese zum Beispiel gerne Verkostungsnotizen von Romanée-Contis aus den 80ern, die ich niemals trinken werde und verschlinge Restaurantberichte von Tokioter Sushitresen, an denen man ohne Vitamin-B oder teure Concierges keinen Platz bekommt. Ich empfände es als absurd, aus dem Grund nicht über einen Wein zu schreiben, weil er unmöglich oder schwierig zu bekommen ist. Über Marcel Reich-Ranickis Pointen konnte man ja auch lachen, ohne je eine Seite Martin Walser gelesen zu haben. Ich würde mich freuen, wenn meine Zeilen helfen, über Niko staunen zu können, ohne je einen Tropfen seines Weines gekostet zu haben.